Ist Empörung eine politische Emotion? Eine Frage der Gefühlsbildung

Als treibende Kraft von Skandalen spielt Empörung immer dann eine wichtige Rolle, wenn individuelles Fehlverhalten oder gesellschaftliche Missstände aller Art öffentlich exponiert, verhandelt und damit zum Politikum werden. Politische Protestbewegungen werden ebenfalls regelmäßig auf Empörung zurückgeführt oder gar damit identifiziert – so etwa im Fall jener Protestbewegung in Spanien 2011/2012, für die sich die Bezeichnung Indignados (‚Empörte‘) etabliert hat. Auch in den Sozialwissenschaften wird Empörung in erster Linie als zentrales Moment der Mobilisierung, Fokussierung und Aufrechterhaltung von politischen Bewegungen thematisiert (vgl. Jasper, 2014). Nicht zuletzt scheinen Interventionen wie etwa die (P)reenactments von Milo Rau oder die Streitschrift Empört euch! von Stéphane Hessel (2011) auf der Vorstellung zu beruhen, dass es sich bei Empörung per se um eine politische und obendrein um eine gute Emotion handle. Denn der Aufruf zur Empörung wird hier nicht nur mit politischer Mobilisierung gleichgesetzt, sondern auch mit einer Mobilisierung in der gewünschten Richtung. Darüber hinaus setzen diese Appelle eine allgemeinmenschliche Kapazität der Empörung voraus, die lediglich auf die richtige Weise animiert werden müsse, um politisch wirksam zu werden.

Gegen die Vorstellung, Empörung sei eine politische Emotion oder zumindest eine politisch besonders relevante Emotion, ist an dieser Stelle nichts einzuwenden. Zu hinterfragen sind allerdings die häufig daran geknüpften Annahmen, dass Empörung auf einer universellen anthropologischen Kapazität basiere, die bei entsprechender Veranlassung den richtigen Normen und Werten zur Durchsetzung verhelfe. Dieser Beitrag vertritt hingegen die These, dass Empörung lediglich in bestimmten sozio-politischen Kontexten als politische Emotion sozialisiert wird. Das bedeutet, dass Empörung nicht als anthropologische Konstante vorauszusetzen ist, und darüber hinaus, dass sich diese Emotion, wo sie ausgebildet wird, mit unterschiedlichen Normen, Werten und politischen Haltungen verknüpfen kann. Diese These stützt sich auf zwei ethnografische Fallbeispiele zur Gefühlsbildung, von denen eines in einem ländlichen Kontext in Madagaskar und eines in einer Kita in Berlin angesiedelt ist. Diese vergleichende Perspektive macht es zunächst erforderlich, das zugrunde gelegte Verständnis von Empörung zu explizieren.

Empörung als berechtigte Wut

In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird Empörung häufig als eine moralische, gerechte oder berechtigte Form der Wut bzw. des Ärgers beschrieben. Diese Bestimmung ist allerdings kaum hinreichend, um Empörung von anderen Formen der Wut abzugrenzen, insbesondere wenn man eine kulturübergreifende Perspektive anlegt. Für die Gesellschaft der Ifaluk (Mikronesien), beispielsweise, hat die Emotionsanthropologin Catherine Lutz mit song eine Variante gerechtfertigter Wut („justifiable anger“) beschrieben, die deutlich von der Empörung abweicht (Lutz, 1988). Song bezieht sich auf eine Form der Wut, die Individuen in einer mächtigen Position (z.B. chiefs oder Eltern) dazu veranlasst, Untergebene oder Kinder für ihr Fehlverhalten zu bestrafen.

Eine genauere Bestimmung von Empörung kann erreicht werden, wenn man ihre zweifache Beziehung zur Ebene der Normativität berücksichtigt. Zum einen adressiert Empörung eine als ungerecht empfundene Situation, was wohl auf jegliche Form von Wut zutrifft. Zum anderen gilt Empörung aber auch selbst als legitime Reaktion auf eine solche Situation, was nicht unbedingt für Wut im Allgemeinen gilt, vor allem nicht, wenn sie mit Gewaltbereitschaft verbunden ist. Dies verweist auf ein spezifisches Attribut von Empörung: Anstelle eines direkten, potentiell gewalttätigen Vorgehens gegen den Missstand oder gegen die als verantwortlich angesehenen Akteure steht die Verlautbarung, der sprichwörtliche „Aufschrei der Empörung“, und damit der Appell an eine dritte Instanz, nämlich eine legitimierte Autorität, die gegen das identifizierte Übel vorgehen soll.

Empörung basiert also auf einer dreigliedrigen sozialen Konstellation, die neben den empörenden und den empörten Akteuren noch sanktionierende Autoritäten umfasst. Hiermit wird auch klar, dass Empörung an bestimmte normative Ordnungen und politische Systeme gebunden ist, in denen gewaltloser, aber lautstarker Protest als legitim gilt. Denn erst diese Voraussetzungen machen Empörung zu gerechtfertigter Wut. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass unter denselben Bedingungen etwa song (oder „gerechter Zorn“) und entsprechende Gewaltpotentiale eher nicht als gerechte Form der Wut gelten würden. Somit ist Empörung (und song) als gesellschaftsspezifische Variante gerechtfertigter Wut anzusehen.

Berechtigte Wut in Menamaty (Madagaskar)

Das erste Fallbeispiel zur Wutsozialisation in Menamaty, einer ländlichen Region Madagaskars, bezieht sich auf einen sozio-politischen Kontext, in dem Empörung im oben genannten Sinn kaum eine Rolle spielt (Scheidecker, 2017). Die Dorfbevölkerung verfügt über ein umfassendes und hochgradig komplexes Wutrepertoire, das mindestens 20 konzeptuell differenzierte Emotionen umfasst. Allerdings lässt sich keines der Emotionskonzepte sinnvoll mit Empörung übersetzen. Nichtsdestotrotz gelten etwa die Hälfte der Wutkonzepte als berechtigte Formen der Wut. Der Übersicht halber werden diese Konzepte im Folgenden auf der Basis struktureller Merkmale zu zwei Gruppen gebündelt: „sanktionierende Wut“ und „vergeltende Wut“.

Sanktionierende Wut bezieht sich auf wütende Reaktionen von Eltern oder Ahnen auf das Fehlverhalten ihrer Kinder und Nachfahren, einschließlich körperlicher Bestrafung. Somit ist sie mit song oder gerechtem Zorn vergleichbar. Allerdings ist sanktionierende Wut im ländlichen Madagaskar kaum als politische Wut anzusehen, da sie lediglich in Bezug auf Abstammungsverhältnisse relevant ist. Vergeltende Wut bezieht sich auf die Tendenzen, erlittenes Unrecht mit gewaltsamen Aktionen zu vergelten. Hierbei handelt es sich insofern um gerechtfertigte Wut, als eine Vergeltungsaktion in der Forschungsregion nicht nur als legitim, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch als geboten gilt. Ferner ist sie als politische Wut zu adressieren, da sie sowohl die normative Ebene als auch die Machtverhältnisse in den Beziehungen zwischen verschiedenen Verwandtschaftsgruppen entscheidend prägt.

Die Untersuchung der Erziehungspraktiken und Sozialisationsbedingungen zeigt deutlich, dass die Gefühlsbildung auf vergeltende Wut anstelle von Empörung zielt. Eine Reihe von verschiedenen Erziehungspraktiken dient dazu, Kinder zu ermutigen, für erlittenes Unrecht direkt Vergeltung zu üben, anstatt bei einer dritten Instanz Unterstützung einzufordern. Eine etablierte Praxis von Müttern bestand beispielsweise darin, bereits einjährigen Kindern, die von einem anderen Kind geschlagen worden waren, einen Stock in die Hand zu geben und sie aufzufordern, Vergeltung zu üben. Etwas ältere Kinder involvierten Erwachsene in der Regel nicht mehr bei Konflikten mit anderen Kindern. Umgekehrt griffen auch Erwachsene normalerweise nicht ein, wenn sie zufällig einen Streit unter Kindern bezeugten – mit der Begründung, dass dies nur zu einer Fortsetzung des Konflikts unter den Erwachsenen führen würde. Generell steht die weitgehende Trennung der egalitären Peer-Beziehungen und der hierarchischen Eltern-Kind-Beziehungen einer Konfliktlösung über die Einbeziehung von Autoritäten, wie sie für die Empörung charakteristisch wäre, entgegen.

Berechtigte Wut in Berlin (Deutschland)

Das zweite Fallbeispiel, eine Kita in Berlin, repräsentiert hingegen einen Sozialisationskontext, der sich gerade durch die Herstellung jener dreigliedrigen sozialen Konstellation auszeichnet, die für Empörung charakteristisch ist. Denn hier verbringen Kinder einen Großteil ihres Tages zusammen mit anderen Kindern unter kontinuierlicher Aufsicht durch Autoritäten mit einem neutralen Anspruch. Eine Reihe von Normen und Richtlinien stellt sicher, dass die Erziehungskräfte bei Konflikten tatsächlich eingreifen: Ganz allgemein gebietet die Betreuungspflicht, dass die Kinder nie unbeaufsichtigt bleiben und bei Gefahr für Verletzungen unbedingt eingegriffen werden muss. Aus Sicht der Erziehungskräfte besteht eine zentrale Aufgabe darin, Kindern Sozialverhalten beizubringen, das heißt, insbesondere bei Konflikten vermittelnd einzugreifen. Eine der obersten Maximen lautet dabei, gewaltsame Auseinandersetzungen unter Kindern zu unterbinden. Nicht zuletzt wird von den Erziehungskräften erwartet, sensibel auf die emotionalen Äußerungen der Kinder einzugehen, insbesondere auf negative Emotionen wie Wut.

Zusammengenommen dürften diese Normen zur Ausbildung eines häufig widerkehrenden Interaktionsmusters beitragen, das der Logik der Empörung entspricht. Dieses Muster lässt sich in etwa wie folgt beschreiben: Ein Kind wähnt sich durch ein anderes Kind unfair behandelt und wendet sich daraufhin mit einem emotionalen Appell an eine Erziehungskraft. Diese versucht, die Sachlage zu klären und daraufhin schlichtend zu intervenieren – zum Beispiel, indem das sich fehlverhaltende Kind aufgefordert wird, den Schaden zu begleichen, sich zu entschuldigen oder sich für eine Weile von der Gruppe fernzuhalten. Während die jüngeren, rund dreijährigen Kinder sich meistens noch auf ein lautstarkes Weinen beschränkten, um an die Erziehungskräfte zu appellieren, waren bei etwas älteren Kindern bereits charakteristische Verhaltensweisen der Empörung zu beobachten, wie etwa ein aufgebrachtes verbales Verlautbaren des Fehlverhaltens oder gestisches Anzeigen des Übeltäters.

Während Wut in der allgemeinsten Form universell sein mag – zumindest hat bislang keine Ethnografie das Gegenteil behauptet –, legen diese beiden Fallbeispiele nahe, dass spezifische Formen wie Empörung oder vergeltende Wut nur unter bestimmten Bedingungen ausgeformt werden. Das heißt, Empörung ist eine politische Emotion, weil sie in bestimmten Gesellschaften gezielt als solche sozialisiert wird. Das bedeutet auch, dass sich Empörung mit unterschiedlichen Normen und politischen Haltungen verknüpfen kann, womit sie zumindest in ihren konkreten Manifestationen kaum als gute oder schlechte Emotion festzulegen ist.

 

Literatur:

Jasper, James M. 2014. Constructing indignation: Anger dynamics in protest movements. Emotion Review 6(3):208-213.

Lutz, Catherine A. 2011. Unnatural emotions: Everyday sentiments on a Micronesian atoll and their challenge to Western theory. University of Chicago Press.

Scheidecker, Gabriel. 2017. Kindheit, Kultur und moralische Emotionen: Zur Sozialisation von Furcht und Wut im ländlichen Madagaskar. Bielefeld: Transcript.

Stéphane, Hessel. 2011. Empört euch! Berlin: Ullstein.

Dieser Beitrag ist Teil der Themenreihe Affekt, Emotionen und das Politische.