A Lesson in Socializing

Der „Social Muscle Club“ veranstaltet in Kollaboration mit Performer*innen und Choreograf*innen Formate sozialer Zusammenkunft, die dem Training intergenerationellen und interkulturellen Dialogs dienen. Nach Besuchen in Grundschulen, Altenheimen und Jobcentern von Berlin über Basel bis Kapstadt luden sie nun zum einmaligen „Bootcamp“ in die Berliner Sophiensäle.

Im goldenen Glitzeranzug, mit dunklem Vollbart und nackter Brust steht der Tänzer und Performer Jared Gradinger gemeinsam mit zwei Mitstreiterinnen auf der Bühne des Hochzeitssaals der Berliner Sophiensäle und begrüßt uns euphorisiert zum sechsstündigen „Social Bootcamp“. Wenngleich wir zu diesem Zeitpunkt bereits seit einer knappen Stunde auf elf Tische verteilt in Zehner-Runden beisammensitzen, preist er nochmal die Losung dieser Zusammenkunft: „Trainiert Eure sozialen Muskeln!“ Für ein besseres und solidarisches Miteinander! Und um noch deutlicher zu markieren, welche gesellschaftspolitische Relevanz er diesem Abend zuschreibt, bemüht er den bleischwer hinkenden Vergleich mit dem zeitgleich stattfindenden, weltweiten Women’s March. Welch Chuzpe! Welch Format-Verkennung! Willkommen also: im „Trainingslager“ für soziale Interaktion.

Gemeinsam Keime pflanzen!    

Es ist der u.a. um Gradinger, Jill Emerson, Till Rothmund organisierte „Social Muscle Club“, der seit 2014 im (z.T. von der Berliner Kulturverwaltung geförderten) Rahmen von Kunst soziale Zusammenkünfte organisiert und hier zum extra langen „Social Bootcamp“ lädt. An der Türschwelle zum Hochzeitssaal stehen zur Linken „Tante Tod“, ein gefühlt zwei Meter großer, schwarz gekleideter Performer mit weiß geschminktem Gesicht und keckem Tüllhütchen, und zur Rechten die Schauspielerin Judith Stößenreuter in hellem, pastellfarbenem Kleid und Baby auf dem Arm, „Schwester Geburt“ sozusagen. Tante Tod reicht mir ein Tütchen Saatgut und kurzerhand finde ich mich am Tisch „Physalis“ neben Gastgeberin Lea aus Basel wieder. Die verdunkelte Bühne mit Band-Equipment, schwarzen Luftballons und Weiße-Fäden-Passepartout erscheint hier eher als Nebenschauplatz und weckt Assoziationen an Unterhaltsformate der leichteren Art. Im Zentrum stehen die großen, z.T. eingedeckten Tische, die Bar, ein kleiner Espressowagen sowie eine große, über die Zuschauer-Podesterie gebaute Küchenzeile, wo dem Duft nach bereits kräftig geschnippelt und gebrutzelt wird. Es ist warm und gemütlich, atmosphärisch wie bei einer großen Party, nur, dass man niemanden kennt. So sitze ich gespannt und warte darauf, dass sich nach und nach Saal und Tische füllen. Hallo Eva, hallo Martin, hallo Zain! Mögen die gemeinsamen Gesprächsfrüchte keimen. Die Referenzen zu Joseph Beuys und seiner Idee von Kunst als sozialer Plastik sind mehr als eindeutig gesät.

Bedingungsloses Geben und Nehmen!

Lea bittet uns aus dem Programmzettel zunächst kleine Streifen Papier herauszureißen, um je einen Wunsch und ein Angebot zu notieren. Dann werden die gesammelten Zettel reihum gezogen und man prüft gemeinsam, wo es Überschneidungen gibt, wo Wünsche unmittelbar erfüllt werden können (dann muss das bereitstehende Glöckchen geläutet und geklatscht werden!) und wo Angebote gleichsam weitere, zukünftige Treffen vorbereiten könnten. Die Wünsche reichen von einer Massage über einen neuen Haarschnitt oder eine Portraitfotografie bis zu einem Bauwagen oder Lottogewinn, das Angebote-Arsenal umfasst ein zu eng gewordenes Kleid, Akkordeon-Unterricht, ein selbst gekochtes Dinner oder stundenlanges Zuhören. Dieses Tisch- und Kennenlernspiel bildet das Herzstück von „Social Muscle Club“-Formaten. Es soll bedingungsloses Geben und Nehmen trainieren und Menschen in Kontakt treten lassen, die im Alltag sonst nicht miteinander ins Gespräch kämen, erklärt mir die überzeugte Lea. An meinem Tisch sitzen u.a. zwei Autorinnen, eine Filmregisseurin, ein Caterer, zwei Student*innen und an Nebentischen erkenne ich weitere Akteure aus der Berliner Kulturszene. Ich würde also meinen, man ist hier eher unter sich. Ein homogenes Publikum hat sich versammelt, das größtenteils mit dem Format vertraut und ganz direkt an neuen Begegnungen (oder Netzwerken?) interessiert zu sein scheint. Gemeinsam erfüllen wir einem Gast seinen Wunsch eines Trust Falls und finden in unserem „Co-Host“, der Choreografin Juli Reinartz, jemanden, der Katharina die Haare schneiden und Martin einen Einführungskurs ins Werk Foucaults geben kann. Ich bekomme eine Massage und verabrede mich zu einem Theaterbesuch im Heimathafen Neukölln. So weit, so gut.

Socializen, nichts als Socializen! 

Es folgt ein kurzes Intermezzo auf der Bühne, um die fünf Workshop-Formate anzukündigen, die nun parallel in Form von one-on-ones angeboten werden: Besuch bei Tante Tod, Wellness-Auszeit bei Juli, Gespräch mit der Aktionskünstlerin Anna de Carlo zur Problemzone Familie („das Bauch-Beine-Po-Training des Social Muscle Clubs“), Arztbesuch und Therapiesitzung mit einem, dem immer alles peinlich ist. Hiermit sind weitere Nebenschauplätze abgesteckt, die von beteiligten SMC-Künstler*innen bespielt werden. Hauptschauplatz bleibt das Gespräch mit der zugeteilten Tischgesellschaft, in der Lea nun eine zweite Runde des Geben/Nehmen-Spiels zu initiieren versucht. Erste Ermüdungserscheinungen meinerseits sind nicht von der Hand zu weisen. Als hätten die Macher*innen dies dramaturgisch einkalkuliert, folgt als nächstes eine dreißigminütige Session kollektives „social dreaming“. Wir erhalten alle eine schwarze Augenbinde, um sieben Minuten in eine esoterische Live-Klangatmosphäre getaucht zu werden und vor uns hinzuträumen, was wir uns im Anschluss (weiterhin blind) erzählen sollen.

Wider der Vereinnahmung!

Es ist immer wieder verrückt (und auch ein wenig beängstigend) zu sehen, wie eine größere Menschenmenge ganz artig macht, was man ihr sagt. Mit hochgezogenem Augenband sitze ich da und konfrontiere das Dilemma: Entweder ich mache weiter mit, weil die Idee grundsätzlich charmant ist und ich keine Spielverderberin sein will (ich denke an vergleichbare Arbeiten, z.B. von Lotte van den Berg) oder ich stehe zu dem, was ich hierbei empfinde und breche ab. Das letztgenannte Szenario macht mich automatisch zum Buhmann. Denn freilich sind die Menschen, mit denen ich hier zufällig den Tisch teile, sympathisch und offen und natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, sich ein wenig zu unterhalten und kennenzulernen. Nur verleiht die Spielsetzung dem Ganzen etwas Unnatürliches, Zwanghaftes und suggeriert: Wenn ich mich hier jetzt nicht (weiter) für die Menschen interessiere, ist das ein Zeichen meiner sozialen Inkompetenz oder gar Arroganz. Und so formiert sich eine Gemeinschaft derer, die sich auf das Socializing-Spiel einlassen, zu der ich mich, sei es aus Langeweile, Desinteresse oder künstlerischen Zweifeln, partout nicht zugehörig fühlen kann. Deshalb verlasse ich nach drei Stunden diese Simulation von sozialem Miteinander.

Im eigenen Anspruch gefangen

Das „Social Bootcamp“ ist ein Widerspruch in sich: Zum einen will es im Rahmen von Kunst aktiv sein, will verschiedene Menschen vorurteilsfrei an einem dritten Ort zusammenbringen und spürbar machen, wie ‚leicht’ eine (temporäre) Gemeinschaft zu etablieren ist, die im Sinne des „sharing is caring“-Prinzips einander Gutes zu tun vermag. Damit reihen sich die Macher*innen in den Kreis derjenigen Künstler*innen ein, die derzeit Orte der Kunst nutzen, um über neue, alternative Formen von Gesellschaft nachzudenken (wie aktuell z.B. Jonas Staal mit seinem Projekt „New Unions“). Zum anderen operiert „Social Bootcamp“ als immersives Performanceformat mit einem neoliberalen Sprech des „Trainings“, der „Einübung“, des „Einsatzes“ und des „Engagements“, impliziert also, dass soziale Interaktion etwas ist, das es zu trainieren gilt, damit man „besser“ darin wird, zur Pflege des eigenen sozialen Kapitals, derjenigen social skills also, ohne die man nicht zuletzt im Kunstbetrieb nicht überlebensfähig ist. Der gefährliche Kurzschluss, der hier vollzogen wird, lautet: Socializing führt zu Solidarität. Was die teilnehmenden Zuschauer*innen beim Bootcamp erleben, ist meines Erachtens eher eine naive Simulation einer Gemeinschaftserfahrung, die weder mit Partizipation, geschweige denn mit politischem Handeln zu tun hat. In diesem Rahmen werden Verhältnisse eher stabilisiert als systematisch hinterfragt und damit das genaue Gegenteil von dem betrieben, wofür die zahlreichen Demonstrierenden beim Women’s March auf die Straßen dieser Welt ziehen.